Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Migrationsregime nach 1945
Als die Bundesrepublik Deutschland ab 1955 Anwerbeabkommen mit verschiedenen Staaten schloss, um ausländische Arbeiter*innen zur Unterstützung der deutschen Wirtschaft zu gewinnen, hatten viele dieser Menschen bereits Erfahrungen mit Deutschland und den Deutschen gemacht. Einige der Anwerbeländer waren von NS-Deutschland besetzt oder mit ihm verbündet gewesen. Auch wurden damals Menschen aus diesen Ländern zur Arbeit für das Deutsche Reich rekrutiert, gewaltsam zur Zwangsarbeit verpflichtet und in deutsche Konzentrationslager verschleppt.
Diese Überlagerungen sind jedoch kaum bekannt. Weder die politisch-historischen und biografischen Zusammenhänge von NS-Besatzung und Migration in die BRD noch strukturelle Ähnlichkeiten und Kontinuitäten zwischen NS-Zwangsarbeit und Arbeitsmigration in der Nachkriegszeit werden in der Erinnerungskultur sowie in der Forschung untersucht und im öffentlichen Diskurs berücksichtigt.
Dieses Dossier geht diesem Themenkomplex nach. Es ist eine Spurensuche danach, wie Besatzungserfahrung, NS-Zwangsarbeit und Nachkriegsarbeitsmigration zusammenhingen. Hierbei setzt das Dossier insbesondere die Erfahrungen von Menschen in den Vordergrund, soweit sie sich heute rekonstruieren lassen – 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs: Geschichten von Menschen aus v.a. südosteuropäischen Ländern, die in NS-Deutschland oder in von NS-Deutschland besetzten Gebieten lebten, ggf. Zwangsarbeit leisten mussten und nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes nach West-Deutschland kamen.
Dabei hat das Dossier einen Schwerpunkt in Bezug auf Griechenland. Das Land war im Nationalsozialismus von Deutschland besetzt. In dieser Zeit verübte die Wehrmacht zahlreiche Massaker an der Zivilbevölkerung. Millionen Menschen litten und starben an der systematischen Aushungerung durch die deutsche Besatzungsmacht. 1961 wurde ein Abkommen zur Rekrutierung und Anwerbung sog. „Gastarbeiter*innen“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Griechenland geschlossen.
Der Fokus auf Menschen aus Griechenland, deren Erfahrungen mit der NS-Besatzung und als Migrant*innen in Deutschland verknüpft sind, ergibt sich primär aus der Quellenlage. Die NS-Besatzung in Griechenland wird seit einigen Jahren in Zeitzeug*innen-, Recherche- und Ausstellungsprojekten untersucht und vermittelt. Zudem wird die Vergangenheit der NS-Besatzung in Griechenland mit gegenwärtigen politischen Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland, auch im Rahmen der Europäischen Union, immer wieder reaktiviert.
In diesem Webdossier werden die Bezüge zwischen NS-Besatzungspolitik, NS-Zwangsarbeit und Arbeitsmigration in der postnazistischen BRD herausgearbeitet; dabei werden auch die bestehenden Lücken in der Forschung sowie im öffentlichen Diskurs sichtbar.
Das Dossier ist in vier Themenbereiche gegliedert: 1) Die deutsche Besatzung Griechenlands als Erfahrungsraum, 2) Migration in die BRD vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus auf die Besatzung, 3) Stimmen griechischer Migranten zum Kontakt mit Deutschen im Nachkriegsdeutschland und 4) Transgenerationale Weitergabe von Erinnerung.
Durch Verweise auf thematisch ähnliche Projekte wird gezeigt, wie die jeweiligen Themen und eventuelle Bezugnahmen bisher in der Forschung und der Kulturwelt betrachtet worden sind. Mit dem Projekt sollen Forschungs- und Denkanstöße zur Betrachtung der aktuellen Erinnerungslandschaft und Debatte zur Migrationsgesellschaft gegeben werden.
In der Überschneidung von Erinnerungskultur, Migrations- und NS-Geschichte nimmt das Projekt Themen in den Blick, die für die heutige Museums- und Gedenkarbeit bedeutsam sind. Denn dieser Ansatz ermöglicht, marginalisierten, bislang wenig beachteten Perspektiven Raum zu geben. Zudem leistet der Ansatz dieses Projekts einen Beitrag zur Erforschung und Darstellung der transnational verflochtenen Geschichten in der deutschen Migrationsgesellschaft.