Stimmen über das Nachkriegsdeutschland

Dimitrios Antonogiorgakis wurde 1926 im Dorf Asteri (Rethymno) auf Kreta geboren. 1941 wurde Kreta vom Deutschen Reich besetzt und Antonogiorgakis wurde Augenzeuge von „Vergeltungsmaßnahmen“ der Wehrmacht, bei denen ein Dorf abgebrannt und einige der Bewohner*innen getötet wurden. 1942 musste er Zwangsarbeit leisten, v.a. in Straßenbauprojekten für die deutschen Besatzungsbehörden. 1943–44 war er als Verbindungsmann und Bote im Widerstand der linken Nationalen Befreiungsfront (EAM) aktiv. Während des griechischen Bürgerkriegs leistete er seinen Militärdienst für die nationale Armee. 1958 heiratete er und gründete eine Familie. 1964 arbeitete er sechs Monate lang im OPEL-Werk Rüsselsheim und in Essen. Nach seiner Rückkehr nach Kreta arbeitete er als Landwirt.

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Interviewer: Wie war Ihr Verhältnis zu den Deutschen während Ihres Aufenthalts in Deutschland?

DA: Freunde. Wissen Sie, was das heißt? Freunde. Ich hatte deutsche Freunde. [...] Wir hatten eine Beziehung zu ihnen. Sehr nette Leute. Sie respektierten uns, die Deutschen respektierten uns.

Interviewer: Wussten sie, was auf dem besetzten Kreta passiert war?

DA: Rein gar nichts, weil es nie erwähnt wurde. Nie. Ich war ja sechs Monate dort und war auch bei Leuten zu Hause. Kein einziges Mal lenkten sie das Gespräch auf den Kreta-Krieg.

Interviewer: Versuchten Sie jemals darüber zu sprechen?

DA: Nein, nie.

Interviewer: Warum nicht?

DA: Sollte ich wohl erwähnen, dass die Deutschen zu uns nach Kreta kamen und uns fertig machten? Um Gottes Willen. Und keiner machte das, keiner machte das.

Interviewer: Warum nicht?

DA: Du, das wäre nicht richtig gewesen, mein Lieber. Sollten wir etwa dort hingehen, um die Geschichte aufzuklären? Wir sind dort hingegangen, um unsere Ruhe zu finden und zu arbeiten, um einen Tagelohn zu bekommen. Jetzt die Kriegsgeschichte anzugehen? Mensch, so was kann nicht sein, dass wir die Kriegsgeschichte zum Thema machen.

Quelle: Antonogiorgakis, Dimitrios, Interview mog008, 12.06.2016, Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland, https://archive.occupation-memories.org/de/interviews/mog008, DOI: https://doi.org/10.17169/mog.mog008 (Abruf: 15.04.2025)

Manolis Gouramanis wurde 1937 in Chortiatis bei Thessaloniki geboren. Infolge eines Hinterhalts der linken Griechischen Volksbefreiungsarmee (ELAS) verübte eine paramilitärische Einheit der Geheimen Feldpolizei 1944 ein Massaker an der Dorfbevölkerung von Chortiatis. Gouramanis‘ Mutter und seine zwei Schwestern wurden dabei ermordet. Er selbst, sein Bruder und sein Vater überlebten. Nach dem Abschluss des Gymnasiums leistete er 1958 Militärdienst und machte eine Ausbildung an der Privaten Buchhalterschule in Thessaloniki. Anschließend kam er 1962 im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutschland und arbeitete in München bei BMW in der Fabrik und als Zeichner. Später bekam er eine Stelle bei den Münchner Wasserbetrieben. 1964 heiratete er eine Frau aus Thessaloniki, mit der er zwei Töchter bekam. Nach dem Renteneintritt kehrte er nach Griechenland zurück. Er trat der Vereinigung der Opferfamilien von Chortiatis bei, die sich am Nationalen Schuldenforderungsrat gegen Deutschland beteiligt.

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MG: Als ich nach München gegangen bin, als ich die Eisenbahnbeamten gesehen habe mit der Uniform, ist mir das Bild der Okkupation, des Krieges gekommen. Und ich habe den Deutschen gesagt (…): „Ich bin gerade aus dem Zug gestiegen und ich habe die Eisenbahnbeamten gesehen – das Bild ist mir gekommen, das Bild des Krieges“ und so weiter. 

Interviewer: Haben Sie Angst verspürt?

MG: Viel und ich habe ihnen sogar gesagt, dass ich mit demselben Zug zurückfahren wollte.

[…]

Und ich habe Deutsche kennengelernt, wo ich nachher auch festgestellt habe, dass nicht alle Deutschen Nazis sind, dass nicht alle Deutschen Verbrecher sind.

Es kamen deutsche Mitarbeiter und sagten: „Was für eine Meinung hast du zu Hitler?“

Und ich sagte ihm: „Du bist doch hier der Deutsche, was fragst du mich?“ 

Und ich habe gesehen, wie er einen Hammer genommen und geschlagen hat und er sagte: „Das größte Schwein“ und so weiter.

[…]

Interviewer: Herr Manolis, ich will, dass wir darüber reden, wann sie zum ersten Mal einem Deutschen das Ereignis der Zerstörung von Chortiatis geschildert haben.

MG: Zum ersten Mal im Jahr 1974, 1975. […] [Ein Kollege] sagte zu mir: „Manolis, am heutigen Datum vor 30 Jahren habe ich meine Familie verloren.“ Ich sagte: „Wo?“ „In Berlin.“ Ich sagte ihm: „Durch wen?“ Er sagte mir: „Durch die Russen, durch die Sowjets.“ […] Es brach der September an, der 2. September und ich sagte ihm: „Karl, am heutigen Datum vor Jahren habe ich meine ganze Familie verloren.“ „Durch wen?“ „Durch die Deutschen.“ „Ah, das gibt's nicht. Nein“, sagte er mir, „das gibt's nicht.“ Ich sagte ihm: „Karl, ich habe dir geglaubt, als du mir gesagt hast, dass du deine Familie in Berlin verloren hast, wieso glaubst du mir nicht?“ 

Später aber, als wir intensiver und konkreter geredet haben, war er überzeugt und er sagte mir dieses und jenes. Und er hat mir sogar noch andere, sehr viel grausamere Ereignisse berichtet, wo er mir sagte: „So ist es geschehen und schlimmer noch“ und so weiter und so fort. Und wieder darauf bezogen habe ich ihn gefragt: „Wem teilst du die Verantwortung zu?“ Und er hat mir aber dasselbe geantwortet: „Der Krieg“, sagte er mir. Und er sagte mir: „Es war nicht das ganze deutsche Volk schuld. Die Auskünfte, die es gab, waren so und die Menschen hatten auch die Angst und so weiter und die Propaganda und all das“, sagte er, „hatten die Menschen dazu gebracht, dass sie so denken und so handeln.“

[…]

Es ist wahr, dass ich es nicht vielen erzählt habe, weder berichtet. Über ganze Jahre mit Kollegen und ich habe nie auch nur erwähnt, dass mir all das hier passiert ist. [...] Ich habe mich nicht getraut, weil ich die Reaktion schon kannte. [...] Ich werde Ihnen jetzt ein weiteres Beispiel nennen. Irgendwann […] wurde der erste amerikanische Film in Deutschland gezeigt, der Holocaust. Den haben wir da alle gesehen. Morgens war ich immer der erste im Büro. Es kam der zweite, der auch sehr viel jünger war als ich. Er sagte mir: „Manolis, ich schäme mich dafür, dass ich Deutscher bin.“ Ich sagte ihm: „Warum?“ „Tja“, sagte er mir, „hast du ihn gestern Abend nicht gesehen? Den Film?“ Ich sagte: „Ich habe ihn gesehen.“ […] Der zweite Kollege kam, welcher älter war […]. Er sagte und hörte: „Ah“, sagte er mir, „das“, sagte er und zu dem anderen: „Das ist amerikanische Propaganda.“ Er sagte ihm: „Es gab kein Dachau, es gab das eine nicht, es gab das andere nicht.“ Ich sagte ihm also: „Bist du, Heinz, je nach Dachau gegangen? Du bist Bayer, du bist mit Haut und Haaren von hier, bist du jemals nach Dachau gegangen?“ „Nein“, sagte er, „und ich gehe nie hin, weil alles gelogen und Propaganda ist.“ Zieht die Schlüsse daraus, dass jeder junge Deutsche den Krieg als Kind erlebt hat oder vielleicht noch nicht geboren war. Die Geschichte erfährt er wahrscheinlich von seinem Vater, die Erziehung, die er bekommt und so weiter. Der eine sagte: „Ich schäme mich, dass ich Deutscher bin.“ Der andere sagte: „Es ist Propaganda.“ Aber ich persönlich habe diesen Kollegen meine Geschichte nicht geschildert, weil ich wusste, dass es diese Reaktion geben würde: Einige werden es glauben, andere werden es nicht glauben. Und ich habe mir gesagt: Bevor solche Eindrücke entstehen, sage ich lieber nichts.

Interviewer: Haben Sie sie niemandem außerhalb der Arbeit erzählt?

MG: Natürlich, anderen Menschen habe ich es erzählt, denn ich habe auch viele Deutsche kennengelernt, wir hatten auch viele gute Bekanntschaften und so. Und auch anderen habe ich es erzählt, natürlich habe ich es erzählt. Die Geschichte von Chortiatis und so weiter, alles.

Interviewer: Verstehe. Sie meinen in Deutschland, ja?

MG: In Deutschland, ja.

Interviewer: Und wie wurden Sie aufgenommen?

MG: Viele und ich sage es nochmal, dass viele ein gewisses Bildungsniveau hatten. Oftmals wussten sie sogar noch besser als ich Bescheid. Sie waren viel besser informiert und sie haben mir das so gesagt und so verhalten sich die Dinge. Dort gab es eine positive Resonanz, die sie mir hinterlassen haben.

Quelle: Gouramanis, Manolis, Interview mog047, 29.10.2016, Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland, https://archive.occupation-memories.org/de/interviews/mog047, DOI: https://doi.org/10.17169/mog.mog047 (Abruf: 15.04.2025)

Efstathios Chaitidis wurde 1935 in Karanitsa/Pyrgoi (Makedonien) geboren. 1944 überlebte er das Massaker an der Dorfbevölkerung von Pyrgoi, bei dem seine Mutter, seine Großmutter und seine vier Geschwister in den Scheunen des Dorfes verbrannt wurden. Sein Vater wurde 1947 im griechischen Bürgerkrieg als vermeintlich Linker verurteilt und hingerichtet. Er hinterließ den Wunsch, dass sein Sohn studieren solle. Nach der Hinrichtung des Vaters wuchs Chaitidis bei Verwandten auf. 1957 leistete er Militärdienst. Da ihm in Griechenland als „Kind eines Linken“ höhere Bildung und Arbeitsmöglichkeiten verwehrt blieben, wanderte er zum Studium nach Deutschland aus, um den Wunsch seines Vaters zu verwirklichen. In München verdiente Chaitidis mit verschiedenen Jobs sein Geld, bis er studieren konnte. Er wurde Zahnarzt und gründete eine Familie mit fünf Kindern. Während der griechischen Militärdiktatur (1967–1974) engagierte er sich politisch gegen die Diktatur. Nachdem er dadurch seinen griechischen Pass verlor, gewährte Deutschland ihm politisches Asyl. Später nahm er die deutsche Staatsbürgerschaft an. Ende der 1970er Jahre bekam er den griechischen Pass wieder und kehrte Ende der 1980er Jahre mit der Familie nach Griechenland zurück. Dort lebt er bis heute.

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EC: Bei der dritten Familie, zu der ich ging, dort traf ich auf andere Menschen. Sie sagten zu mir: „Komm und iss mit uns.“ Da sagte ich zu ihnen: „Schaut mal, da ihr mich so behandelt, muss ich euch etwas sagen.“ Und ich erzählte ihnen meine Geschichte. Obwohl ich sie niemandem erzählt hatte. Und ich erzählte sie auch nicht rum, auch danach nicht. Aber bei ihnen hatte ich das Gefühl, ich müsste sie ihnen erzählen. Und ich erzählte sie ihnen. Und tatsächlich, ich kann mich an Franziska erinnern, die Kinder nennen sie Tante Fanny, so nennen sie sie heute. Sie machte so [rückt den Kopf vor], als ich ihr sagte, dass sie uns lebendig verbrannt hatten, dann sagte sie zu mir: „Was, die unsrigen?“ Ich sagte: „Ja.“ „Die Schweine“, sagte sie. Und ich sagte: „Verdammt, die hier sind auch Deutsche, was passiert hier denn jetzt?“ Wenn sie mir früher gesagt hätten, nimm ein Maschinengewehr und töte, hätte ich es getan. Wie sollte ich aber diese Menschen töten? Geht das? Es geht nicht. Also. Diese Familie hat mein ganzes Leben in Deutschland verändert.

Quelle: Chaitidis, Efstathios , Interview mog057, 16.12.2016, Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland, https://archive.occupation-memories.org/de/interviews/mog057, DOI: https://doi.org/10.17169/mog.mog057 (Abruf: 15.04.2025)

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Über Efstathios Chaitidis‘ Lebensgeschichte drehte der Journalist Nikos Aslanidis 2014 den Film „Paradoxe Heimat“. Im Jahr 2020 erschien über seine Geschichte der Film „Der Wert der Freiheit“ vom Bayerischen Rundfunk, der in der Mediathek des ARD frei verfügbar ist.

Ausschnitte aus im Rahmen dieses Projekts geführten Interviews mit Efstathios‘ Sohn Aristoteles Chaitidis sind auf der Seite Transgenerationale Erinnerung zu finden.

Stavros Papoutsakis wurde 1926 in Meskla auf Kreta in eine arme Bauernfamilie geboren. Ab 1943 beteiligte er sich am Widerstand der linken Griechischen Volksbefreiungsarmee (ELAS) gegen die deutsche Besatzungsmacht. 1944 wurde er aufgrund seiner widerständigen Tätigkeit mit seinem Bruder und ca. 400 weiteren Männern festgenommen und in einem Gefangenenlager inhaftiert. Über Athen und Belgrad wurde er ins KZ Mauthausen deportiert. Während der Gefangenschaft erfuhr er von der Hinrichtung seines Bruders im Gefangenenlager auf Kreta. In Mauthausen leistete er Zwangsarbeit in Kriegsfabriken und in der Autoindustrie. Nachdem 1945 das KZ Mauthausen durch US-amerikanische Truppen befreit wurde, kehrte Papoutsakis stark geschwächt nach Meskla zurück. 1946 tötete er einen Dorfkameraden, den er für den Verrat an den Deutschen und somit für den Mord an seinem Bruder verantwortlich machte. Später trat er der Demokratischen Armee Griechenlands (bewaffnete Organisation der Kommunistischen Partei) bei und wurde anschließend in die Armee eingezogen. 1949 heiratete er und gründete eine Familie mit vier Kindern. 1965 ging er als Arbeitsmigrant nach Deutschland, wo er in Krefeld für knapp ein Jahr in einer Gießerei arbeitete. Nach seiner Rückkehr nach Meskla arbeitete er bis an sein Lebensende als Landwirt.

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Interviewer: Als Sie wieder Deutschen begegneten, wie fühlten Sie sich?

SP: Sie redeten nicht mit einem. Damals sprachen sie nicht mit uns. Sie haben dich nicht angesprochen und auch nicht belästigt.

Interviewer: Wie haben Sie sich aber gefühlt, als Sie ihnen nach all diesen Jahren wiederbegegneten?

SP: Hör mir zu, mein Junge. Ich hinterließ damals Deutschland in Trümmern. Es gab keine Häuser mehr. Und als ich wieder zurückkam, waren alle Häuser wiederaufgebaut worden. Die Deutschen arbeiteten. Sie hatten Arbeit. Und ich floh nach Deutschland, weil ich arm war und meine Kinder ernähren wollte.

Quelle: Papoutsakis, Stavros, Interview mog010, 14.06.2016, Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland, https://archive.occupation-memories.org/de/interviews/mog010, DOI: https://doi.org/10.17169/mog.mog010 (Abruf: 15.04.2025)

 

Hinweis: Die Transkriptionen der Interviews wurden hier zugunsten der Lesbarkeit sprachlich leicht überarbeitet.