Manolis Gouramanis wurde 1937 in Chortiatis bei Thessaloniki geboren. Infolge eines Hinterhalts der linken Griechischen Volksbefreiungsarmee (ELAS) verübte eine paramilitärische Einheit der Geheimen Feldpolizei 1944 ein Massaker an der Dorfbevölkerung von Chortiatis. Gouramanis‘ Mutter und seine zwei Schwestern wurden dabei ermordet. Er selbst, sein Bruder und sein Vater überlebten. Nach dem Abschluss des Gymnasiums leistete er 1958 Militärdienst und machte eine Ausbildung an der Privaten Buchhalterschule in Thessaloniki. Anschließend kam er 1962 im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutschland und arbeitete in München bei BMW in der Fabrik und als Zeichner. Später bekam er eine Stelle bei den Münchner Wasserbetrieben. 1964 heiratete er eine Frau aus Thessaloniki, mit der er zwei Töchter bekam. Nach dem Renteneintritt kehrte er nach Griechenland zurück. Er trat der Vereinigung der Opferfamilien von Chortiatis bei, die sich am Nationalen Schuldenforderungsrat gegen Deutschland beteiligt.
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MG: Als ich nach München gegangen bin, als ich die Eisenbahnbeamten gesehen habe mit der Uniform, ist mir das Bild der Okkupation, des Krieges gekommen. Und ich habe den Deutschen gesagt (…): „Ich bin gerade aus dem Zug gestiegen und ich habe die Eisenbahnbeamten gesehen – das Bild ist mir gekommen, das Bild des Krieges“ und so weiter.
Interviewer: Haben Sie Angst verspürt?
MG: Viel und ich habe ihnen sogar gesagt, dass ich mit demselben Zug zurückfahren wollte.
[…]
Und ich habe Deutsche kennengelernt, wo ich nachher auch festgestellt habe, dass nicht alle Deutschen Nazis sind, dass nicht alle Deutschen Verbrecher sind.
Es kamen deutsche Mitarbeiter und sagten: „Was für eine Meinung hast du zu Hitler?“
Und ich sagte ihm: „Du bist doch hier der Deutsche, was fragst du mich?“
Und ich habe gesehen, wie er einen Hammer genommen und geschlagen hat und er sagte: „Das größte Schwein“ und so weiter.
[…]
Interviewer: Herr Manolis, ich will, dass wir darüber reden, wann sie zum ersten Mal einem Deutschen das Ereignis der Zerstörung von Chortiatis geschildert haben.
MG: Zum ersten Mal im Jahr 1974, 1975. […] [Ein Kollege] sagte zu mir: „Manolis, am heutigen Datum vor 30 Jahren habe ich meine Familie verloren.“ Ich sagte: „Wo?“ „In Berlin.“ Ich sagte ihm: „Durch wen?“ Er sagte mir: „Durch die Russen, durch die Sowjets.“ […] Es brach der September an, der 2. September und ich sagte ihm: „Karl, am heutigen Datum vor Jahren habe ich meine ganze Familie verloren.“ „Durch wen?“ „Durch die Deutschen.“ „Ah, das gibt's nicht. Nein“, sagte er mir, „das gibt's nicht.“ Ich sagte ihm: „Karl, ich habe dir geglaubt, als du mir gesagt hast, dass du deine Familie in Berlin verloren hast, wieso glaubst du mir nicht?“
Später aber, als wir intensiver und konkreter geredet haben, war er überzeugt und er sagte mir dieses und jenes. Und er hat mir sogar noch andere, sehr viel grausamere Ereignisse berichtet, wo er mir sagte: „So ist es geschehen und schlimmer noch“ und so weiter und so fort. Und wieder darauf bezogen habe ich ihn gefragt: „Wem teilst du die Verantwortung zu?“ Und er hat mir aber dasselbe geantwortet: „Der Krieg“, sagte er mir. Und er sagte mir: „Es war nicht das ganze deutsche Volk schuld. Die Auskünfte, die es gab, waren so und die Menschen hatten auch die Angst und so weiter und die Propaganda und all das“, sagte er, „hatten die Menschen dazu gebracht, dass sie so denken und so handeln.“
[…]
Es ist wahr, dass ich es nicht vielen erzählt habe, weder berichtet. Über ganze Jahre mit Kollegen und ich habe nie auch nur erwähnt, dass mir all das hier passiert ist. [...] Ich habe mich nicht getraut, weil ich die Reaktion schon kannte. [...] Ich werde Ihnen jetzt ein weiteres Beispiel nennen. Irgendwann […] wurde der erste amerikanische Film in Deutschland gezeigt, der Holocaust. Den haben wir da alle gesehen. Morgens war ich immer der erste im Büro. Es kam der zweite, der auch sehr viel jünger war als ich. Er sagte mir: „Manolis, ich schäme mich dafür, dass ich Deutscher bin.“ Ich sagte ihm: „Warum?“ „Tja“, sagte er mir, „hast du ihn gestern Abend nicht gesehen? Den Film?“ Ich sagte: „Ich habe ihn gesehen.“ […] Der zweite Kollege kam, welcher älter war […]. Er sagte und hörte: „Ah“, sagte er mir, „das“, sagte er und zu dem anderen: „Das ist amerikanische Propaganda.“ Er sagte ihm: „Es gab kein Dachau, es gab das eine nicht, es gab das andere nicht.“ Ich sagte ihm also: „Bist du, Heinz, je nach Dachau gegangen? Du bist Bayer, du bist mit Haut und Haaren von hier, bist du jemals nach Dachau gegangen?“ „Nein“, sagte er, „und ich gehe nie hin, weil alles gelogen und Propaganda ist.“ Zieht die Schlüsse daraus, dass jeder junge Deutsche den Krieg als Kind erlebt hat oder vielleicht noch nicht geboren war. Die Geschichte erfährt er wahrscheinlich von seinem Vater, die Erziehung, die er bekommt und so weiter. Der eine sagte: „Ich schäme mich, dass ich Deutscher bin.“ Der andere sagte: „Es ist Propaganda.“ Aber ich persönlich habe diesen Kollegen meine Geschichte nicht geschildert, weil ich wusste, dass es diese Reaktion geben würde: Einige werden es glauben, andere werden es nicht glauben. Und ich habe mir gesagt: Bevor solche Eindrücke entstehen, sage ich lieber nichts.
Interviewer: Haben Sie sie niemandem außerhalb der Arbeit erzählt?
MG: Natürlich, anderen Menschen habe ich es erzählt, denn ich habe auch viele Deutsche kennengelernt, wir hatten auch viele gute Bekanntschaften und so. Und auch anderen habe ich es erzählt, natürlich habe ich es erzählt. Die Geschichte von Chortiatis und so weiter, alles.
Interviewer: Verstehe. Sie meinen in Deutschland, ja?
MG: In Deutschland, ja.
Interviewer: Und wie wurden Sie aufgenommen?
MG: Viele und ich sage es nochmal, dass viele ein gewisses Bildungsniveau hatten. Oftmals wussten sie sogar noch besser als ich Bescheid. Sie waren viel besser informiert und sie haben mir das so gesagt und so verhalten sich die Dinge. Dort gab es eine positive Resonanz, die sie mir hinterlassen haben.
Quelle: Gouramanis, Manolis, Interview mog047, 29.10.2016, Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland, https://archive.occupation-memories.org/de/interviews/mog047, DOI: https://doi.org/10.17169/mog.mog047 (Abruf: 15.04.2025)