Transgenerationale Erinnerung

Erinnerung von unten in „Tsakalos Blues“ 

von Yara Haskiel 

Tsakalos bedeutet Schlitzohr, wie eine Figur aus dem Rembetiko, dem subproletarischen griechischen Blues aus den Hafenstädten von Smyrna, Piräus und Thessaloniki. Tsakalos wurde mein sephardischer Großvater Samuel genannt. Der Blues ist die Resonanz, der Beat des Überlebens, des Klassismus, des Rassismus und des klandestinen Wissens – der Expertise der gelebten Erfahrungen. „Tsakalos Blues“ ist Ausdruck einer kaum bekannten historisch-politischen asymmetrischen Relation zwischen Griechenland und Deutschland und meiner Familiengeschichte. 

Mein Großvater war Fischer aus dem Vardaris-Viertel und der einzige Überlebende der Familie aus Thessaloniki. Nach NS-Zwangsarbeit in Nordgriechenland und Gefangenschaft im jüdischen Ghetto wurde er wie die ganze Familie nach Auschwitz deportiert. Mit einem Arbeitskommando zu Aufräumarbeiten nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto konnte er Auschwitz verlassen und wurde nach einem Todesmarsch nach Dachau deportiert und dort befreit. In Feldafing wurde er als Displaced Person registriert. Er verweigerte den Militärdienst in Griechenland und ihm wurde die griechische Staatsbürgerschaft entzogen. Dadurch und durch die sog. deutschen Blutsgesetze erhielt er den Status „heimatloser Ausländer“ nach den Genfer Konventionen von 1951, welcher auf meinen Vater und Onkel übertragen wurde. Zusammen mit meiner Großmutter Anna eröffneten sie drei Lokale mit Livemusik in München, die zu Treffpunkten von einer kleinen Gruppe griechischer Jüdinnen*Juden, amerikanischen GIs, Arbeiter*innen und unterschiedlicher migrantischer Communities wurden

2005 begann ich, über sephardische Stimmen aus Griechenland im Bezug zum Holocaust zu recherchieren; doch ich konnte im deutschsprachigen Raum, in europäischen Gedenkstätten und Archiven kaum etwas finden. Anders als die erzählten Mikrogeschichten meines Vaters, die sich in Bildern, Erinnerungssequenzen und Echos im alltäglichen Leben in mir wiederfanden und in unseren Gesprächen widerspiegelten.

Meine filmische Praxis wurde zu einer Dringlichkeit und zum Prozess, Erinnerung zwischen Generationen, Orten, Zeiten und ihren subtilen psychischen inneren Exilen wie Affekten aufzuzeichnen. Die Kamera wurde zum dritten oder vierten Körper in den Aufnahmekonstellationen, das Medium Video zum Erinnerungsspeicher und die Montage Teil des Subjektivierungsprozesses des Essays. Die Kamera zeigt die prekären Produktionsverhältnisse, in denen der Film entstanden ist, während die Sprechakte in der Montage neu mnemonisch verknüpft wurden. Die intersubjektiven Artikulationen zwischen meinem Vater und mir werden Teil der Differenzherstellung im Gegensatz zu normativen Darstellungen symbolischer oder national repräsentativer Holocaust-Dispositive.

Mündliche Überlieferung beinhaltet Zuhören, Hinterfragen und auf die vielschichtigen Ebenen der mobilisierten Erinnerungen zu achten, die sich in Gesten, Pausen, Lücken, Tränen, Seufzern, Murren, Lachen, Erschöpfung, Schweigen und Unaufmerksamkeit ausdrücken. Die affektive Fähigkeit, zu beeinflussen und beeinflusst zu werden. Mikrogeschichten mit ihren spezifischen sozio-politischen Bedingungen verlassen den Bereich der festen Kategorien, die hegemoniale und lineare Erzählungen über historische Ereignisse hervorrufen, in denen nach Walter Benjamin sogar die Toten nicht vor dem Feind geschützt sind, wenn dieser gewinnt. 

Das gemeinsame Zuhören und Sprechen sowie das imaginäre wie tatsächliche Zurückreisen an die Orte der Erinnerung zwischen mir, meinem Vater und Freunden der Familie ist tagebuchhaft und in intimen Settings aufgezeichnet. Die fragmentarischen Ebenen der Verhandlungen zwischen der zweiten und dritten Generation multiplizieren sich zu Erinnerungskonstellationen, die zwischen den Orten und Zeitschichtungen wie ineinander gewebte innere psychische Landschaften, Spiegelungen und rhythmisierte Aushandlungen des Erinnerns funktionieren. Durch die bewusst reflexiven Methoden breche ich damit, eine vermeintliche Distanz zwischen Kamera und Frame zu suggerieren. Ich arbeitete mit der Unterminierung einer Trennung zwischen den Demarkierungslinien der Visibilitäten und den realen Produktionsverhältnissen und verweise somit auf performative wie feministische künstlerische Methoden. In der Montage verdichtete ich Fotos aus dem Familienalbum sowie Archivmaterial und ein auf Super 8 gedrehtes fiktionales Diary. Die Kamera wird zu einem dritten Körper audio-visueller Zeugenschaft in der affektiven Konstellation des sieben Jahre langen filmischen Prozesses. Der Film adressiert den blinden Fleck der Klasse und Hybridität als unbequeme ungehörte Realität in Gesellschaften, die durch Zuschreibungslogiken und Pässe stratifiziert sind.   

„Tsakalos Blues“ zeigt, wie komplexe Subjektivierungsprozesse des Vergessens und Erinnerns durch filmische Forschung bearbeitet werden können. Er zeigt, wie durch und mit nachgeborenen Generationen klandestines Wissen, sowie Strategien des Überlebens und der Disidentifikation in affektiven Verbindungen innewohnen können. Im Gegensatz zum materiellen Erbe besteht das immaterielle Erbe aus zerbrechlichen Texturen und Grenzschichtungen in ihren feinen, verletzlichen Bedeutungen und Ambivalenzen. Das immaterielle Erbe bleibt oft unerkannt, weil es für diejenigen, die einfache Antworten ohne Grautöne suchen, einen Widerspruch darstellt.

Erinnerung von unten bedeutet, Geschichten „gegen den Strich“ (Walter Benjamin) zu erzählen, die jenseits von Verwertungs- wie Instrumentalisierungslogik funktionieren. Erinnerung von unten wartet nicht auf Verständnis der Mehrheitsgesellschaft. Erinnerung von unten als künstlerische Praxis ist in „Tsakalos Blues“ eine generationsübergreifende Reproduktionsarbeit von hybrider Uneindeutigkeit als Potential des Xenos, die in einem deutschen Phantasma einer „vorbildlichen Geschichtsaufarbeitung“ keine Identifikation erkennen kann und deshalb in Bewegung bleibt.  

Ausschnitte aus „Tsakalos Blues“ können hier angesehen werden.

Aristoteles Chaitidis ist der jüngste Sohn von Efstathios Chaitidis, der die deutsche Besatzung in Griechenland überlebte und 1959 nach Deutschland migrierte. 

2014 wurde der Film „Paradoxe Heimat“ über Efstathios Chaitidis‘ Lebensgeschichte gedreht. Aristoteles wirkte an dem Film dramaturgisch mit und kommt darin auch selbst als Interviewpartner zu Wort. Bei einem Publikumsgespräch im Rahmen eines Filmscreenings von „Paradoxe Heimat“ am 20. Februar 2025 im FHXB Museum erzählte er davon, wie der Film und die Arbeit am Film sein Verhältnis zur Geschichte seines Vaters veränderten:

In einem Interview mit Luise Fakler am 25. Februar 2025 im FHXB Museum erzählte Aristoteles Chaitidis davon, wie die Geschichte seines Vaters seine Erziehung beeinflusste, über die fehlende Thematisierung der deutschen Besatzung im Geschichtsunterricht und wie er selbst begann, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen: